Bilfinger Berger

Irische Bildung

(Erschienen im Magazin von Bilfinger Berger)

In der nordirischen Kleinstadt Lisburn prallen zwei Welten aufeinander: Auf der einen Seite der Castle Street stehen Geschäftsräume leer, ein Dach droht einzustürzen. Auf der anderen Seite prangt das Logo des South Eastern Regional College (SERC) an einem modernen Neubau. Das College ist eine Mischung aus Fortbildungszentrum, Berufsschule und VHS. Es will Grundlagen für einen wirtschaftlichen Aufschwung der ganzen Region legen.

(Quelle: http://www.bilfinger.com)

Russell Spencer hofft in Nordirland sein Glück zu finden. Vor einem Jahr ist er mit seiner Familie aus Simbabwe nach Belfast gezogen, weil sein Geburtsland eine beispiellose Talfahrt erlebte. Der 21-Jährige trägt ein blaues Poloshirt mit dem Schriftzug „Johnson`s Coffee“. Für die Firma repariert er in Restaurants Kaffee-Maschinen, in ganz Nordirland kommt er herum, gelegentlich sogar nach Dublin. Die Arbeit bringt Geld. „Aber ich will kein kleiner Monteur bleiben“, sagt er.

Deshalb hat sich der Junge mit den Sommersprossen und der hohen Stimme zu einem Elektrotechnikkurs im South Eastern Regional College (SERC) eingeschrieben. Jeden Donnerstag von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends befasst er sich in dem zwei Jahre währenden Kurs mit den Geheimnissen von Elektroden, Transistoren und elektrischen Widerständen. „Zwölf Stunden am Stück lernen, das ziehe ich durch, weil ich weiterkommen will“, sagt er. Neben ihm sitzt Christy Dade, 31, der seit zwölf Jahren als Elektriker arbeitet, im 45-Mann-Betrieb „ESS“ jedoch keine Aufstiegschancen sieht und sich deshalb weiterbildet. Außerdem ist beispielsweise ein Verkäufer dabei, der seine Zukunft jenseits der Ladentheke sucht.

Russell Spencer schwärmt, wie gut das College ausgestattet ist. Bis ins Detail erklärt er, wie eine Sortiermaschine des schwäbischen Roboterbauers Festo funktioniert. Dabei schlüpft er zwischen einem Roboterarm, Förderbändern und einem Trichter voller Maiskörner hindurch. Seine Augen leuchten. „So eine Maschine kostet 200.000 Pfund. Und das SERC besitzt ein. Phänomenal!“

Das SERC ist eine Mischung aus Fortbildungszentrum, Berufsschule und Volkshochschule, wie man sie in Deutschland nicht kennt. Die Dozenten arbeiten daran, Kursteilnehmer unterschiedlichster Couleur fit zu machen für den Arbeitsmarkt. Damit nicht genug: Die Lehrer nehmen als Berater oder Produktentwickler Aufträge aus der freien Wirtschaft an. Und Kurse werden auf Unternehmen zugeschnitten. Das macht das College zum Dreh- und Angelpunkt für die berufliche Bildung und Unternehmensentwicklung in Nordirland.

Rund 68.000 Beschäftigte haben sich in den vergangenen zehn Jahren hier für ihren Job aus- oder weitergebildet. „Diese Leute sind wichtig für unsere Wirtschaft“, sagt Ken Webb, Principal and Chief Executive, und Chef der 1200 SERC-Mitarbeiter.

„Wir verfolgen heute die gleichen Ziele wie 1914, als die Technikschule in Lisburn gegründet wurde“, erklärt er. Damals boomte in Belfast  der Schiffbau, dort lief die Titanic vom Stapel, der modernste Ozeandampfer seiner Zeit. Das College bildete Schiffsbauer und Schweißer für die Hightech-Werften aus. Es ermöglichte durch niedrige Studiengebühren selbst Armen höhere Bildung. Zudem bot es Schulabgängern mit schlechten Zeugnissen Extrakurse in lesen, schreiben und rechnen.

Die Ziele sind gleich geblieben. 250.000 Nordiren gelten als Analphabeten, fast jeder zweite Schulabgänger gehört dazu. Studiengebühren an der Uni sind hoch, für viele zu hoch. Doch anders als Anfang des Zwanzigsten Jahrhunderts sucht man boomende Industrie heute in Belfast vergeblich. Schiffe werden in Asien gebaut. „The troubbles“ – der blutige Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken – lähmte das Land. Nordirlands Wirtschaft sucht neue Märkte, Nischen in der Medizintechnik oder der Nanotechnologie.

Ken Webb umreißt deshalb, welche neue und doch alte Rolle das SERC bei der Wiederbelebung der Wirtschaft spielen will. Der Staat müsse Steueranreize setzen, schnelles Internet sei bereits verfügbar. „Wir sorgen dafür, dass Fachkräfte exzellent ausgebildet sind. Ziel ist nicht, ein Diplom in der Tasche zu haben, sondern Fähigkeiten zu erwerben“, sagt Ken Webb. Ein Schwerpunkt liegt bei Wissenschaft, Technik, Ingenieurswesen und Mathematik. Jeder Dritte Student besucht einen dieser Kurse.

So sitzen denn im Verlauf eines Jahres insgesamt 15.000 Erwachsene wie Russell Spencer in den Klassenzimmern, Laboren und Techniksälen. Manche abends noch im Blaumann, den sie tagsüber auf der Arbeit tragen.

Vormittags bevölkern junge Leute den Lisburn Campus. Ihre Kleidung ist betont leger, bunte T-shirts. Endlich keine Schuluniform mehr. Rot gefärbte Haare. Über 5.000 Schulabgänger verteilen sich auf Vollzeitkurse in 40 Fächern.

Manche haben das SERC bereits während ihrer Schulzeit kennengelernt, da das College Partnerschaften mit 36 Secundary und Grammar Schools unterhält. Über 1300 Schulkinder besuchen so jährlich Ferienkurse im SERC. Die Absolventen lassen sich nun beispielsweise in der Kfz-Werkstatt, der Schreinerei oder der Restaurantküche ausbilden.

Andere Jugendliche streben zur Universität. Auf einer Art Bildungsleiter klettern sie von Kurs zu Kurs höher. Naomi Campbell, 20, macht das so. Ihr Schulzeugnis war nicht gut genug für die Hochschule. Nun lernt sie im SERC „Health and Social Care“. Sie sitzt im Rollstuhl und fährt so flink die Gänge entlang, dass man kaum hinterher kommt. Sie möchte später als Sozialarbeiterin in einem Jugendzentrum arbeiten. „Ich will Verständnis für Behinderte wecken.“ Im SERC wurde sie zur Behindertenbeauftragten der Student Union gewählt.

James Currie, 21, hat eine besonders innige Beziehung zum Campus Lisburn. Als Student hat er beim Bau des Gebäudes mitgearbeitet. Er hat Arbeitspläne geschrieben, den Materialfluss überwacht. Viel Verantwortung. „Die Bauarbeiter haben mich akzeptiert. Sie wussten: Was ich sage, stimmt, weil ich im SERC lerne.“

Gerade hat James Currie sein Studium an der University of Ulster in Belfast begonnen. Er will „Building Surveyant“ (Baugutachter?) werden. Aufgrund der beiden Jahre, die er  im SERC absolviert hat, wird seine Studienzeit um ein Jahr verkürzt. „Insgesamt habe ich ein Jahr mehr Ausbildung. Das ist ein Vorteil“, sagt James Currie und fügt etwas leiser hinzu: „Naja, würde ich nicht studieren, wäre ich jetzt arbeitslos.“

Der Werdegang von Helen Singer, 50,  zeigt dagegen, dass sich plötzlich Beschäftigungsmöglichkeiten auftun, selbst wenn ein Kurs auf Volkshochschulniveau beginnt. 14 Jahre lang hat die Engländerin als Kinderkrankenschwester gearbeitet. Nach der Kinderpause besuchte die dreifache Mutter Hobby-Kunstkurse. „Ich habe schon früher Taschen aus Leinen und Filz gebastelt, Kunst hat mich interessiert.“

Heute unterstützt sie mit ihrer mütterlichen Art als Hilfslehrerin im SERC schwache Schüler. Sie gibt Nachhilfe in Englisch und hält Klassenkasper in Zaum. Gerade wird sie im Kunstraum gebraucht, wo junge Schulabgänger Würfel aus Papier falten. Helen Singer zeigt, wie man exakte Falze zieht. „Der Job füllt mich aus“, sagt sie in feinem Englisch.

Der Blick des Colleges geht über die Studenten hinaus zu den Unternehmen. Mit über 1000 Firmen wurde ein Netzwerk geflochten. Dickschiffe sind darunter wie Bombardier und Coca Cola. Für den Flugzeugbauer bildete das SERC Beschäftigte im Umgang mit Titan und Carbon weiter. Für den Getränkehersteller schulte SERC Mitarbeiter, wie eine moderne Abfüllanlage zu bedienen ist.

„Wir fragen: Welche Kurse braucht die Wirtschaft? Wir beharren nicht drauf, dass unsere Kurse 100jährige Tradition haben“, sagt Michael Malone, Director of Curriculum Services and Campus Director. Er ist sicher: Ingenieure brauche die Wirtschaft. Praktiker eben.

Die Wirtschaft des Landes wird allerdings von kleinen Firmen getragen, von Dreimannbetrieben wie dem von Harry Connor, 39. Der gedrungene Automechaniker, unter dessen Hemdsärmeln Tätowierungen vorlugen, zeigt stolz seine Erfindung: Eine Teleskopstange, die man im Auto oder Laster zwischen Lenkrad und Bremspedal klemmt, um die Bremslichter zu prüfen. Nichts Großes, doch bei ebay gehen die Dinger weg.

Das Logo von „the extra foot“ hat der Produktdesign-Dozent Andrew Corrett, 42 entworfen. „Solche Aufträge halten mich praktisch fit. Sie helfen, nicht in der Theorie der Lehre zu verstauben“, sagt er und blättert durch sein Skizzenbuch. 120 Pfund Gebühr musste Erfinder Harry Connor für das Logo zahlen. „Ich habe Erfindungen im Kopf“, sagt der verschmitzt: „Für CAD-Zeichnungen und das Logo komme ich wieder zum SERC.“

Ian Cuthberton genießt das bunte Treiben in Lisburn, nichts erinnert ihn an eine miefige Lehranstalt. „Dieses helle, moderne Gebäude. Mit dem Café und dem Frisörsalon am Eingang. Wie eine Mall“, freut er sich. Etwa einmal im Monat verlässt er sein Büro in Belfast gen Lisburn.

Cuthbertson ist Geschäftsführer von Bilfinger Berger Project Investments (BBPI) und zuständig für den Lisburn Campus. Die Investmenttochter des Mannheimer Konzerns betreibt die Bildungseinrichtungen in Public Private Partnership (PPP): Das irische Bauunternehmen Farrans errichtete die Gebäude. Der Dienstleister Graham ist für das Facility Management zuständig. Bilfinger Berger ist Finanzier und mit 50 Prozent gewichtigster Partner. BBPI vermietet die Gebäude auf 25 Jahre an das College. „Wir sorgen dafür, dass das College immer modern ist. Das betrifft die Möbel wie die IT.“ Aus dem Café blickt er hinüber zum Frisörsalon, wo Lehrlinge fleißig kämmen und föhnen. „Der muss natürlich auch immer up to date sein“, sagt er grinsend.

Für Cuthbertson liegen die Vorteile von PPP im Bildungsbereich auf der Hand: Der Staat müsse nichts in den Bau der Gebäude investieren. Stimmen, der Staat dürfe Bildung nicht in private Hände legen, gebe es in Großbritannien kaum.

Russell Spender, der Junge aus Simbabwe, profitiert von der Ausbildung am SERC. Womöglich ist Nordirland jedoch zu klein für seine Träume. „Ich interessiere mich für Starkstromanlagen“, sagt er: „Arbeit in einem Kernkraftwerk, das wär´s.“ Die gibt es zwar in Großbritannien – nicht jedoch in Nordirland.

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