Sparkasse

Weg der Dreck

(Erschienen im GUT Magazin der Sparkassen)

Marode Chemiefabriken und der Kohleabbau trugen Bitterfeld einst den Ruf der „dreckigsten Stadt Europas“ ein. Diese Zeiten sind vorbei. Die Stadt setzt auf Solartechnologie, aus den Kratern des Braunkohletagebaus entstand eine vorbildliche Seenlandschaft. Geschichte eines gelungenen Strukturwandels.

An einem Sandstrand fläzen sich Sonnenhungrige in Liegestühlen, Badende juchzen. Am gegenüberliegenden Ufer des künstlichen Sees schützt ein Zaun die Lurche und Adler eines Landschaftsschutzgebiets vor Eindringlingen. Die Goitzsche liegt nur wenige Hundert Meter östlich des Bittenfelder Stadtkerns und ist in den wenigen Jahren ihres Bestehens zum geliebten Naherholungsgebiet der Einwohner geworden. Die Plätze in den beiden Jachthäfen sind so begehrt, dass es Wartelisten gibt. Mit 13 Quadratmeters bietet die Goitzsche ausreichend Fläche und Buchten zum Segeln.

(Quelle: http://www.gutmagazin.dsgv.de)

Angesichts der Idylle ist kaum zu glauben, dass genau dort, wo heute die Sonne im Wasser glitzert, vor nur zwanzig Jahren riesige Bagger Krater in die Landschaft rissen. Ihr Hunger nach Braunkohle verschlang fünf Ortschaften. Die Krater wurden anschließend zum künstlichen See Goitzsche geflutet. Dank ihr ist Bitterfeld nicht länger als die „dreckigsten Stadt Europas“ verschrien, hat sich stattdessen zur „grünen Industriestadt am See“ gewandelt.

Die Volkseigenen Betriebe (VEB) Bitterfelds mit insgesamt  50.000 Beschäftigen belieferten einst die DDR mit Kunstfasern, PVC, Nitratsalzen, Salpetersäure und Filmrollen. Mit der Bitterfelder Braunkohle wurde ein Großteil des Energiebedarfs Ostberlins gedeckt. Das industrielle Herz der Region zwischen Leipzig, Halle und Berlin schlug hier.

Die Kehrseite des „Aufbau des Sozialismus“ war freilich ein Wald aus Schloten, der nach Schwefel stinkende Abgase in den Himmel schickte. Einheimische frotzelten, sie gingen nur mit Motorradbrille aus dem Haus, um die Augen vor dem beißenden Ruß zu schützen. „Seh´n wir uns nicht in dieser Welt, so seh´n wir uns in Bitterfeld!“ dichtete man in der DDR über die graue, stinkende Tristesse.

Heute ist die Stadt, in der einst der Farbfilm Agfacolor erfunden wurde, wieder bunt geworden. In vielen kleinen Schritten und Dank des Aufbaus neuer Branchen. Bitterfeld ist ein Gewinner, kein Sieger. Der Ort ist weit vom Glanz Leipzigs und der touristischen Attraktivität des Berliner Umlandes mit seinen Seen entfernt und wird es wohl immer bleiben. Kein herausgeputztes Kleinod findet der Besucher hier, sondern eine eher spröde und triste Kleinstadt. Wer kann, fährt auf der A9 die 160 Kilometer weiter nach Berlin oder 50 Kilometer nach Leipzig, statt die Ausfahrt zu nehmen. „Der Mexikaner ist gut, der Grieche hat zu“, sagt die Damen am Hotelempfang und hat damit das Angebot an Restaurants bereits weitgehend aufgefächert. Der Aussichtsturm „Bitterfelder Bogen“, neues Wahrzeichen der Stadt, steht verlassen in einem Wäldchen. Zwischen Bitterfeld früher und heute lag ein langer und schmerzhafter Weg.

„Wir waren stolz darauf, in Bitterfeld zu arbeiten“, sagt Peter Ulbricht, 58. Sein gesamtes Arbeitsleben hat er in der „Filmfabrik Wolfen“ verbracht, Kunden in der DDR und im gesamten Ostblock betreut. Dorthin hat der Volkseigene Betrieb Filmmaterial der Marke „ORiginal WOlfen“ geliefert, kurz: ORWO, das auch westdeutschen Fotografen ein Begriff war.

„Doch vom Renommee konnten wir uns nach der Wende nichts kaufen“, sagt Ulbricht, der heutige Geschäftsführer der Orwo Net AG. Er hat die wirtschaftliche Blüte der ORWO und die schwer erträgliche Umweltverschmutzung in der Region miterlebt. Und er hat den Absturz ertragen, der mit dem Ende der DDR einherging. Als 1989 im nahen Leipzig mit den Montagsdemonstrationen Geschichte geschrieben wurde und 1990 mit der Wiedervereinigung die Marktwirtschaft den Plan ablöste, brach rund um Bitterfeld die Wirtschaft zusammen. „Plötzlich sollte alles, was wir geleistet haben, nichts mehr Wert sein“, erinnert sich Ulbricht.

Von den einst 15.000 ORWO-Beschäftigten sind nach zwei Insolvenzen gerade mal 250 Arbeitsplätze übrig geblieben. Peter Ulbricht erinnert sich an trotzige Gedanken: „Irgendwas muss doch übrig bleiben!“ Tatsächlich klopften die Filmhersteller Agfa und Ilford an, prüften die Maschinen – und winkten ab, denn die Technik war hoffnungslos veraltet, der osteuropäische Markt existierte nicht mehr. Auf dem Weltmarkt vermisste niemand ORWO. Der Treuhand gelang daher nicht die Privatisierung. Nahezu alle Gebäude wurden abgerissen, auf einem Areal, das so groß ist wie ein ganzer Stadtteil. Nur einige Werkshallen blieben darauf stehen, Wildwiesen überwuchern heute den Rest.

ORWO teilte sein Schicksal mit den anderen volkseigenen Betrieben. Nach der Wende waren Zweidrittel der Arbeitsplätze in der Region verloren gegangen, aus der Stadt Wolfen zog jeder zweite der einst über 40.000 Einwohner fort, tausende Wohnungen, vor allem Plattenbauten, wurden abgerissen. Heute leben rund 45.000 Menschen im Kreis Bitterfeld/Wolfen, Tendenz noch immer fallend, aber mit deutlich abgeschwächter Dramatik.

Der Strukturwandel hat dank Firmen wie ORWO längst eingesetzt. Die Chance bot die digitale Fotografie. ORWO stieg von der Filmproduktion auf den Druck von Digitalfotos um. Heute drucken sie über 300 Millionen Bilder im Jahr. Hinzu kommen Kalender und Fotobücher, bedruckte Tassen und T-Shirts. „Wir haben zum richtigen Zeitpunkt auf die neue digitale Technologie gesetzt“, sagt Ulbricht. Ironie des Schicksals: Dem Unternehmen hing nach dem Zusammenbruch keine Altlast aus der analogen Filmtechnik am Bein. Jüngst wurde das Unternehmen mit hundertjähriger Tradition für den „Deutschen Gründerpreis“ in der Kategorie „Aufsteiger“ nominiert, weil der Umsatz in den vergangenen Jahren um über 40 Prozent zulegte – Jahr für Jahr.

ORWO teilt – wie erst den Zerfall – so auch den Wiederaufstieg mit dem Rest Bitterfelds. Im „Chemiepark Bitterfeld-Wolfen“ haben sich heute 360 neue Firmen angesiedelt, darunter so bekannte wie Bayer, Degussa und Linde, aber auch Handwerker, Autohäuser und der TÜV. Das Areal beginnt gleich hinterm Bahnhof und ist größer als die Stadt selbst. Man könnte meinen, die Wohngebiete sind ein Anhängsel des Industriegebietes. Lockmittel waren üppige Subventionen von Land, Bund und EU, die rund die Hälfte der Baukosten übernahmen. Lokalpolitiker genehmigten zudem Bauvorhaben innerhalb weniger Wochen. Platz gab es nahezu unbeschränkt, die A9 und der Flughafen Leipzig waren weitere Pluspunkte.

Andreas Czaja, Vorstand der örtlichen Sparkasse, beobachtet, dass Unternehmen verstärkt in der Region investierten. Im ersten Halbjahr 2001 nahmen die Firmenkredite um über 9 Prozent zu. Ein „Netzwerk zur Wirtschaftsförderung“, in dem unter anderen das Landratsamt, eine Gesellschaft für Wagniskapitalgesellschaft, Unternehmer und die Sparkasse zusammenarbeiten, trage zum Aufschwung bei. „Es ziehen sogar Arbeitnehmer, die in den Westen gegangen waren, nach Bitterfeld zurück“, sagt er und verweißt auf den vielfältigen Branchenmix in der Region.

Eine Branche hat in Bitterfeld besonders von sich Reden gemacht: „Solar Valley“ nennt sich die Region etwas großspurig, an der Autobahn weißt ein großes Schild darauf hin. Hier sind so viele Firmen der Solarbranche versammelt wie kaum woanders in Europa. Insgesamt arbeiten 3000 Menschen im „Tal der Sonnenenergie“. Das Pionierunternehmen war Q-Cells, dessen Mitarbeiterzahl von 19 auf heute über 2000 gestiegen ist. Der Erfolg lockte Nachahmer. Sonnenallee heißt die Straße bezeichnenderweise, an der sich die Unternehmen angesiedelt haben. Gut ein Dutzend moderne Industriebauten mit Fassaden aus Glas und Beton stehen in Reih und Glied, zwischen ihnen sind Flächen frei. Platz für Expansion. Im Hintergrund drehen sich Windräder. Zwar erleidet die Branche derzeit eine Wachstumsdelle, doch allerseits wird ihr eine strahlende Zukunft vorhergesagt.

In den drei Werkshallen der Sovello AG, Produzentin von Siliziumscheiben, Solarzellen und ganzen Modulen, die auf Hausdächer montiert werden, ist es klinisch rein. 1.200 Mitarbeiter sind hier beschäftigt, in fusselfreie, lichtblaue Anzüge gekleidet. An Roboterarmen sausen Solarmodule durch die Endfertigung. „Die Solarbranche wirft ein neues Licht auf die Region. Statt Braunkohledreck jetzt saubere, grüne Energie“, sagt Thomas Rennert, 27. Der gelernte Automechaniker kam vor vier Jahren über eine Leiharbeitsfirma ins Unternehmen und hat längst einen festen Arbeitsvertrag in der Tasche, unbefristet. Nie hat er einen Gedanken darauf verwendet, seine Heimatstadt wie viele seiner Jahrgangsgenossen zu verlassen. „Der angeblich so goldene Westen lockt mich nicht“, sagt er. Hier lasse es sich gut leben. An die Zeiten, als Bitterfeld ein dreckiger Industriemoloch war, kann sich der junge Mann nicht mal mehr erinnern.

Ted Scheidegger, 53, ist der Boss bei Sovello. Der gebürtige Kanadier hat viel gesehen von der Welt. Er ist in den USA aufgewachsen, hat in Wien studiert, in Kiel promoviert, in Kalifornien, München und in Nordrhein-Westfalen gearbeitet, seine Familie lebt in Zürich. Es hat daher Gewicht, wenn Scheidegger sagt: „Bitterfeld ist eine aufstrebende Region.“

Ted Scheidegger schmeichelt dem örtlichen Menschenschlag: „Durch die lange Tradition der Chemieindustrie sind die Leute in technischen Berufen gut ausgebildet. Viele von ihnen haben sich seit der Wende nach dem Verlust des Jobs auf Neues einrichten müssen.“ Sie seien aufgeschlossen und blickten nach vorn. Das schlechte Image der Stadt spiele im Ausland keine Rolle. „Führungskräfte und Ingenieure ziehen gern her. Für sie zählt, was hier ist, und nicht, was hier war.“ Allerdings wohnen die meisten lieber in Leipzig oder Halle und pendeln bis zu 50 Kilometer weit zur Arbeit. Scheidegger selbst hat sich in Bitterfeld ein Haus gekauft. Er schwärmt von einer „Lebensqualität fast wie in Kanada“ und vom Glücksgefühl beim Segeln vor der eigenen Haustür, denn er lebt direkt an der Goitzsche. „Wo ist sonst ein Haus am See erschwinglich!“

ENDE

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