Bei S 21 steht der nächste Schritt an: Der Südflügel des alten Bahnhofs soll abgerissen werden. In der Nacht zu Freitag räumt die Polizei die Blockade von Projektgegnern. Splitter eine Widerstandsnacht.
Demonstranten zerren Holzpaletten auf die Straße. Jemand schleift rot-weiße Absperrgitter herbei. Fertig ist die Barrikade. Ein Sofa wird an den Wall gerückt, zwei Aktivisten lassen sich müde darauf plumpsen, was den Unmut einer anderen hervorruft. „Die schlafen auf den Barrikaden“, murmelt sie vor sich hin. Barrikadenbau kann so gemütlich sein. Doch wird die Nacht friedlich bleiben?
Tatort Stuttgart. Hauptbahnhof. Es ist zwei Uhr nachts. Bevor der Morgen graut wird die Polizei den Südflügel des Gebäudes absperren, damit die Bahn AG das Gebäude abreißen kann. Der Altbautrakt muss weg, damit der neue Bahnhof gebaut werden kann. Seit Mitternacht harren 600 Demonstranten auf der Straße aus, um das zu verhindern. Um 1 Uhr würden die Ordnungshüter, fast 2000 an der Zahl, anrücken, meint man zu wissen. Oder um 3 Uhr. Jedenfalls vor 8 Uhr.
(Die Fotos stammen nicht aus der im Text beschriebenen Nacht)
Es herrscht die in Stuttgart fast schon übliche Protest-Folklore. Ein Mann im orangenen Overall bläst große Seifenblasen, ein paar junge Leute kicken sich einen Ball zu. Blasmusiker spielen das Lied von der Eisenbahn auf Lummerland, Sänger singen die Fußballerhymne „You never walk alone“, was sich bewahrheiten wird, weil einige Dutzend Demonstranten später von Polizisten begleitet werden, zur Aufnahme der Personalien. Doch die Nacht beginnt mit profaneren Problemen.
1 Uhr 43. Im provisorischen „Café am Solarbahnhof“ geht der Kaffee aus. Auch Milch und Zucker sind alle. Dabei hatte man sich doch auf eine lange Nacht vorbereitet. Glücklicherweise tritt um 2 Uhr 36 Verbesserung ein. Es gibt frischen Kaffee – nur Milch ist weiterhin knapp.
2 Uhr 45. Der Bahnhof ist geschlossen wie jede Nacht. Dicke Ketten umschließen die Gitter an den Eingängen „Bis 4 Uhr“, sagt ein Sicherheitsmann einem Demonstranten, der am Nordeingang hinein will. Weil doch um 3 Uhr 05 ein Zug nach Essen fährt. „Haben Sie eine Fahrkarte“, fragt der Bahnmann und lässt den Hinweis auf den Automaten am Bahnsteig nicht gelten. Der Mann ohne Ticket, der freilich auch nicht nach Essen fahren will, muss draußen bleiben.
3 Uhr. Es kommt Bewegung in die Sache. Ein Radfahrer brüllt: „Die sind an den Zelten!“ Die, das sie Polizisten, und die Zelte stehen im angrenzenden Schlossgarten, wo seit Monaten sogenannte Parkschützer siedeln. Einige Demonstranten rennen los – und fallen auf eine Finte herein. Denn in diesem Moment strömen wohl um die 150 Polizisten aus dem Bahnhof, bilden eine Kette über die Straße und schneiden ihnen den Rückweg ab.
Plötzlich kreischt eine Flex, Funken sprühen. Jemand schneidet den Hochsicherheits-Bauzaun zum sogenannten Grundwassermanagement auf, dem ersten Behelfsbau des Projekts. Der Aufschneider ist Polizist; seine Kollegen schlüpfen durch den Zaun, holen Absperrgitter hervor und riegeln die Straße ab. Fertig ist die Polizeibarrikade. Vor den Bahnhofsflügel kommt niemand mehr. Nur noch weg. Nachhause.
Mittlerweile sind auf die Journalisten da, die „embedded“, die Polizei begleitet haben. Eingezogen nach Stuttgart wie einst ihre Kollegen mit der US Army nach Bagdad. Viel erfahren haben sie offenkundlich nicht.
Es kehrt wieder Ruhe ein. Sogar Langeweile. Polizisten stehen in Reihen an beiden Enden der Straße, Demonstranten dazwischen. Es regt sich nichts.
Bei einigen Demonstranten macht sich Blasendruck bemerkbar. Da kommt endlich die Durchsage der Demo-Organisatoren, die Erleichterung verspricht. Ein Klo wurde hergerichtet. Zwei Einkaufswagen wurden dazu umgestürzt und mit einer golden glitzernden Rettungsdecke umspannt. Klugerweise steht die Behelfsbedürfnisanstalt über einem geöffneten Kanaldeckel.
Es ist 4 Uhr geworden. Aus einem Lautsprechwagen der Polizei tönen wiederholt Durchsagen. Man kann sie kaum verstehen, weil die Demonstranten jedes Mal brüllen und Lärm schlagen. Bei der Verlautbarung der Ordnungshüter geht es darum, dass die Versammlung verboten sei und man doch bitte gehe, gern in den nahen Schlossgarten. Unübersehbar sind zwei große Schilder: „Ausgang“ steht darauf. Wie bei einem Oper-Air-Konzert.
Polizisten mit gelben Leuchtwesten, auf denen „Antikonfliktteam“ steht, gehen von Demonstrant zu Demonstrant. Mit Engelsgeduld, zuweilen mit einem milden Lächeln im Gesicht, fordern sie die Blockierer auf zu gehen. „Das will ich schriftlich“, sagt eine Frau und trillert dem Beamten auf ihrer Pfeife ins Gesicht. Eine Frau überlegt spitzfinding: In der Durchsage heiße es, man könne „jederzeit“ gehen. „Jederzeit heißt ja nicht jetzt“, sagt sie. Ein Polizist grinst: „Sie müssen aber nicht bis zum Morgen warten.“ Ein Kollege bescheinigt einem auf dem Boden sitzenden Blockiere: „Jetzt haben Sie Ihren Protest doch kund getan“. Dass nämlich der Abriss des Baudenkmals unnötig wenn nicht gar ungesetzlich sei.
5 Uhr 30. Polizisten beginnen, sitzende Demonstranten von der Straße zu pflücken und wegzutragen. „Bewahren Sie Ruhe“, mahnt die Polizistenstimme aus dem Lautsprecher, noch immer könne man den Platz unbehelligt verlassen: „Nehmen Sie die Chance wahr“. Eine Demonstrantin ruft dagegen: Nur das Wegtragenlassen koste 80 Euro, das begleitete laufen sei gratis. Nach 10, 15 Weggetragenen machen die Beamten Pause. Man lässt sich Zeit. Alle bleiben cool, auf beiden Seiten.
7 Uhr 30. Die Blockade ist beendet. Die Polizei ist Herr der Straße. Die Bahn kann ihren Bauzaun errichten und sich zunächst im Gebäude zu Schaffen machen, bevor es an den Abriss gehen wird. Die nächsten spannenden Nächte – oder Tage – wird es geben, wenn die Zeltstadt in Park geräumt wird und wenn Bäume gefällt werden. Gut möglich, dass es dann nicht so friedlich bleibt.
In dieser Nacht läst sich Stuttgarts Polizeipräsident Thomas Züfle kurz am Bahnhof blicken. Er spricht mit einigen Demonstranten. Die überlegen hinterher. „Hat er jetzt Wohlwollen über zivilen Ungehorsam geäußert?“, fragt einer und vermutet: „Wohl eher nicht.“