Reportagen

Die etwas anderen Schlossbewohner

(Erschienen in Landluft – Das Remstal-Magazin)

Ein Herrensitz mit amouröser Vergangenheit ist heute Stammsitz der größten Behinderteneinrichtungen im Südwesten. Doch wer meint, die Bewohner der „Diakonie Stetten“ seien beschränkt, sollte mal ihre vielfältigen Qualitäten kennenlernen

Rauschende Feste sollen es gewesen sein, die der württembergische Herzog Eberhard Ludwig von Stetten dereinst hier mit seinem Gefolge – und seiner Mätresse Wilhelmine von Grävenitz feierte. Eines soll gar sieben Wochen am Stück gedauert haben, bei einem Weinkonsum von 20.000 Litern „Stettener“. Man kann also nicht behaupten, dass die Wandlung von Schloss Stetten vom Lust- zum Nutzschloss fürs einfache Volk ein Niedergang gewesen sei. Ganz im Gegenteil.

(Quelle: Zeitenspiegel.de)

Das Herrenhaus liegt noch im diesigen im Morgenlicht, da herrscht hier schon reger Betrieb. Zwei Frauen spazieren untergehakt wie alte Freundinnen durch die Grünanlage, ein Mann schiebt einen Rollstuhl nebst Rollstuhlfahrer, Männer und Frauen jeden Alters hasten zu ihrer Arbeitsstelle im Schloss, zum Stammsitz der „Diakonie Stetten“.

Zum Nutzschloss war der barocke Bau allerdings schon früher umfunktioniert worden. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts durften die Witwen württembergischer Herzöge hier ihren Lebensabend verbringen. Bis König Wilhelm I., dieser sozialen Gunsterweisung müde, das Gemäuer nebst Rosengarten 1863 an den Lehrer Johannes Landenberger verkaufte. 49.000 Gulden zahlte der, um mit seiner „Heil- und Pflegeanstalt für schwachsinnige Kinder“ hierher zu ziehen, als im nahen Vaihingen an der Ems der Platz zu knapp wurde. Mehr und mehr Pfleglinge gelangten nach Stetten, die Anstalt wuchs, bald wurde gar ein eigener Anstaltsfriedhof angelegt. Heute finden rund 1600 Menschen, vor allem Erwachsene, in den Heimen und Wohngruppen der Diakonie, die verstreut zwischen Schorndorf und Stuttgart liegen, ein Zuhause. Über 900  von ihnen haben ihren Arbeitsplatz in den Werkstätten. Zudem sind in der Behindertenhilfe der Diakonie mehr als 2200 Nichtbehinderte beschäftigt.

Unter dem Namen „Anstalt Stetten“ kennt die Einrichtung jeder im Remstal. Weil aber das Wort „Anstalt“ in Zeiten politischer Korrektheit eher an „Irrenanstalt“ denn an „Badeanstalt“ erinnert, wurde sie in „Diakonie Stetten“ umbenannt.

Wer ein Weilchen auf einer der Bänke vor dem Stettener Schloss sitzt und genau hinsieht, dem fallen hier so besondere, liebenswerte und auch eigenwillige Menschen auf, dass er – wenn er denn Reporter ist – über jeden einzelnen schreiben möchte. Beispielsweise über Udo Martin Koch. Mit scheuem Blick marschiert dieser Mann von 46 Jahren, das Haar strubbelig, der Schnauzbart störrisch, Richtung Pferdestall. Drei junge Hunde balgen sich dort in der Sonne, eine Schar Gänse watschelt entspannt schnatternd an ihm vorbei.

Udo Martin Koch ist Autist, er redet nicht viel, doch die Tiere verstehen ihn auch ohne Worte. Koch arbeitet als Gehilfe der Reit-Therapeuten. In der Halle führt er die Stute Coy im Kreis, an deren Sattel sich ängstlich ein Mann klammert. Der Mann trägt eine Jacke, es ist kühl hier drinnen. Mit ruhigen Handgriffen befestigt Koch Kunststoffringe an einem hölzernen Sarotti-Mohr, den er mal im Sperrmüll gefunden hat. Der ängstliche Reiter löst seinen Schraubstockgriff, fasst vom Pferderücken aus einen Ring und legt ihn sich um den Hals. Die Übung hat sich Koch selbst ausgedacht. Koch, der Therapeut. „Und prima!“, lobt sich der Mann auf dem Schimmel und lacht. Und Koch, der Therapeut, fordert ihn mit Singsangstimme auf: „Noch ein Ring.“ Er wirkt zufrieden mit seiner Arbeit, zufrieden damit, dass der Reiter seine Hilfe annimmt.

Überhaupt: das gegenseitige Helfen. Hannelore Poré könnte gar nicht ohne sein. Also geht sie, lernbehindert hin oder her, in ihrer Freizeit einer ehemaligen Betreuerin, die jetzt in Rente ist,  bei der Hausarbeit zur Hand. Sauber muss es sein, predigt die emsige Poré. Und: „Ich gebe die Hilfe zurück, die ich bekomme“. 72 Jahre ist sie alt. Das Wort „Ruhestand“ empfindet sie als Bedrohung.

Poré arbeitet im Restaurant „La Salle“, direkt neben dem Schloss. Wie ein kleiner Wirbelwind ist sie ständig unterwegs, bringt dreckige Schürzen und Tischdecken in die Wäscherei, legt Kuchen der hauseigenen Bäckerei in die Theke, holt Wurstdosen aus der Metzgerei und beklebt sie mit Etiketten: „Weiße Presswurst“. Kaum bremsen können die Betreuer sie in ihrem Arbeitseifer.

Zur Hochform läuft Hannelore Poré in der Mittagszeit auf, wenn sie dafür sorgt, dass gebrauchtes Geschirr zurück in die Küche kommt. Sie isst extra schon vor den Gästen und erlaubt sich ein Verschnaufen erst, wenn alle Tabletts abgeräumt sind. Mit Tempo schiebt sie Abräumwagen vor den Aufzug und stellt nicht ohne Stolz fest: „Ich halte den Laden am Laufen“.

„Ich bin nicht pimpelig“ sagt Poré, nicht wehleidig. Morgens schwimmt sie im Naturbad, wo die Frösche quaken. Geduscht wird nur kalt, das halte jung. Poré blinzelt verschmitzt, als sie über die Politik der Bundesregierung schimpft und gleichwohl, als sie vom Urlaub am Gardasee schwärmt – „Mit den netten Italienern.“

Seit 1954 lebt Poré in der Diakonie. Damals war sie gezwungen, mit einem Schlafsaal Vorlieb zu nehmen. Um 20 Uhr herrschte strenge Nachtruhe. Nicht wenige Betreuer erlebte sie als „richtige Beißzangen“. Umso mehr schätzt sie es heute, Herrin über ein eigenes Appartement zu sein: „Mir sagt keiner mehr, wann ich ins Bett soll.“ Abends jagt sie beim „Tatort“ Verbrecher, bestickt nebenher Tischdecken – oder hopst über ihr durch die Luft sausendes Springseil.

Hannelore Poré fühlt sich in Stetten daheim. Sie kauft im Dorf ein, wo ihr die Verkäufer beim Kleingeld zählen helfen. Mit dem Linienbus  fährt sie „in meine Einkaufstadt“ Waiblingen. Freundschaften pflegt sie allerdings keine. „Hat keinen Wert“, sagt sie bestimmt: „Vergangenheit muss man ruhen lassen.“ Da ahnt man die frühen Verletzungen.

Dagegen ist Andreas Scheytt, stämmig und mit 32 Jahren  noch jung, der ideale Kumpeltyp. Zusammen mit anderen arbeitet er im Behindertendorf Hangweide, das zu den „Remstal Werkstätten“ gehört und nur wenige Kilometer vom Schloss entfernt liegt. Es wird nun aufgelöst, weil die Absonderung Behinderter von sogenannten Normalen gesellschaftspolitisch von gestern ist. Scheytt ist so beliebt und kontaktfreudig, dass er seit vier Jahren dem Gesamtwerkstattsrat vorsitzt, also dem Betriebsrat der behinderten Mitarbeiter. In den Pausen erzählt er sich mit seiner Kollegen-Clique Zoten. Ein Foppen und Lachen wie in jedem x-beliebigen Pausenraum – allein die Bild-Zeitung fehlt.

Als Junge hatte Scheytt wegen seiner Lernprobleme eine Förderschule besucht. Heute darf er sich als rechte Hand des Chefs fühlen. Er verfügt über einen Werkstattschlüssel und geht ans Telefon, wenn der Gruppenleiter im Haus unterwegs ist. Die 13 Kollegen fragen ihn um Rat, sobald Unsicherheiten auftauchen oder eine Maschine streikt. Mehrmals täglich läuft Scheytt leicht hinkend mit einem Auftragszettel ins Lager und holt hunderte Inbusschlüssel. Die verpackt er, 25 Stück je Schachtel. „Die Arbeit ist abwechslungsreich“, sagt er, er habe es mit unterschiedlichen Typen des Werkzeugs zu tun: „Sechs Millimeter, acht Millimeter, mit Kugelkopf.“

Besonders stolz sind Scheytt und Kollegen auf einen Auftraggeber: Porsche. Mehrere Poster neuer und älterer Modelle zieren die Wände des Werkstattraumes. Drei Mann bringt der Sportwagenbauer in Lohn und Brot. Mit Spezialmaschinen montieren sie Ringe und Schrauben an ein Bauteil für die Getriebe der Modelle Carrera und Boxter.

Ein solches Teil hängt lädiert am Schwarzen Brett. Weil eine Schraube falsch montiert war, flog dem Fahrer eines fabrikneuen Rennwagens das Getriebe um die Ohren. „Das Ding ist eine Warnung für uns“, sagt Scheytt. Jetzt wird jede Lieferung streng kontrolliert, bevor sie die Werkstatt verlässt.

Jeder Beschäftigte hat seine Eigenarten, Stärken und Schwächen. Jeder kennt die des anderen. Mit der Folge, dass ein freundschaftliches Miteinander herrscht. So lässt Scheytt seinen Kollegen „Lüschi“ die Marotte, immer eine Pappe mit aufgeklebten Fotos herumzutragen, während er wirre Sätze in sein Diktiergerät spricht. „Lüschi ist halt so“, sagt Scheytt mit Nachsicht.

Kämpfen kann er aber auch,  allerdings erst nach der Arbeit. Jeden Donnerstag tauscht er die Werkstattkluft gegen das weiße Outfit des Judokas. „Mir gefällt der Wettkampf“, sagt er. Bald fährt er zu den Special Olympics nach Italien. 20 Sportsfreunde der Diakonie trainieren dafür den „Spaghettiwurf“ und den „Zehn-Euro-Wurf“. Krachend legen sie einander aufs Kreuz. Nach Zweikampf und Fallschule ist Scheytt groggy. Noch ein paar Autorennen am PC – dann fällt er ins Bett.

Martin Udo Koch, der Mann vom Pferdestall, hält nichts von Sport. Sich zu verausgaben widerspräche seinem Naturell: feinsinnig und kreativ. Koch ist Bildhauer und einer der „Künstler aus Stetten“. Die Werke der Gruppe wurden bereits in Brasilien und ganz Europa bestaunt.

Den Grundstock für Kochs Kunst legte dessen Sammelwut: Im Sperrmüll und auf Flohmärkten geht er auf Beutezug nach Spielzeugtieren, Kasperlepuppen, Gartenzwergen, Schlümpfen und Figuren aus Überraschungseiern. „Die rette ich“, sagt er. Dinge wegzuwerfen hält er für Frevel. Koch hat schon so viele Stühle vor der Müllpresse bewahrt, dass man mit ihnen eine Kneipe ausstatten könnte. Heute schüttet er aus seiner Umhängetasche die jüngsten Funde: ein Krokodil, ein Häuschen und einen Modell-Reisebus mit Metallgehäuse. Dessen Sitzbank ist umgestürzt und zerbrochen. „So ein Mist“ schimpft Koch: „Das Plastik ist porös!“ Dann macht er sich daran, das Ding zu reparieren.

Seine Schätze fügt Koch zu Skulpturen zusammen, die er „Denkmäler“ nennt. „Schlumpfdisko“ heißt eines, „Lady Di“ ein anderes. Gerade klebt er einen Ritter auf eine Burg, die von einem Drachen und einem englischen Bobby bewacht wird. Ein Prinzenpaar steht mittig vor einem Werbeschild für Lebkuchen. „Ideen habe ich beim Märchenhören. Von Schallplatte.“

Daheim vor seinem Zimmer steht ebenfalls ein „Denkmal“. Eine grüne Kiste mit der Aufschrift „Wilde Tiere“ steht auf dem Boden. Koch wiegt eine Cowboy-Figur in den Händen. „Das ist Big Jim“, sagt er und guckt die Puppe mit scheuem Blick an. „Big Jim ist nicht für ein Denkmal. Der ist zum Spielen.“

Dann träumt sich Koch in seine eigene Welt. Ein Universum voller Abenteuer, weit weg vom Trubel in Stetten und im Schloss. Weit weg auch von den württembergischen Witwen, von Mätressen ganz zu schweigen.

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