Als das Kreuzfahrtschiff „Costa Concordia“ am 13. Januar 2012 kenterte, glaubte Ute Kaufmann*, sie müsse sterben. Sie schickte ihrer Schwester eine letzte SMS: „Haben SOS. Sag den Kindern, ich habe sie lieb.“ Dann sprang sie mit ihrem Lebensgefährten ins Wasser. Die beiden wussten nicht, dass rettendes Land so nah war und schwammen um ihr Leben. 32 Menschen ertranken bei der Katastrophe vor der Küste Italiens.
Mein Kollege Kuno Kruse hat im Stern eine Chronologie veröffentlicht, für die ich die Erlebnisse von fünf Überlebenden recherchiert habe. Ute Kaufmanns Schicksal wird in der Reportage nicht beschrieben, deshalb können Sie hier das Protokoll der Frau lesen, die bereits mit dem Leben abgeschlossen hatte.„Sag den Kindern, ich habe sie lieb“
20:00 Uhr: „Es war unsere letzte Nacht an Bord. Wir sind an Deck herumgeschlendert, haben die Seeluft genossen. Das war unser Ritual jeden Abend.“
21:00 In der Kabine packt sie, legt Kleidung für die Rückreise zurecht, den Safe räumt sie leer. Erst später wird sie merken, dass ihre Uhr stehengeblieben war.
21:45 Das Schiff rammt den Felsen. „Eine Kühlbox ist mir vom Tisch entgegengerutscht. Beim zweiten Rumpler ist eine Schublade rausgehauen.“
„Plötzlich war absolute Ruhe. Das Licht ging aus. Ich wusste, dass etwas passiert ist. Ich dachte, wir seien auf offener See. Wir hatten ja erst vor drei Stunden abgelegt.“
Kaufmann und ihr Partner verlassen ihre Kabine, nehmen Schwimmwesten mit, er seinen Rucksack, sie ihre Bauchtasche, sie steigen das Treppenhaus zu Deck 4 hoch. Die Kabinentür lassen sie offenstehen, weil sie an eine Rückkehr glauben.
„Das Schiff lag schief. Das habe ich auf dem Gang gespürt.“ Die Tür fällt wegen der Schieflage nicht zu.
Eine Durchsage beschwichtigt, der Schaden sei behoben. „Das Schiff hat sich aufgerichtet. Ich dachte: Wow, die haben es tatsächlich geschafft!“ Weil das Schiff dennoch nicht fährt, kehrt Kaufmann nicht in die Kabine zurück. Da neigt sich die Concordia erneut, und die Hoffnung ist dahin. „Kinder fingen Kinder an zu heulen, Frauen schrien.“
„Wir haben uns wie bei der Übung in Fünferreihen an einem Rettungsboot aufgestellt, zusammen mit einer Familie mit Kindergartenkind und Baby. Eine Costa-Mitarbeiterin hat gesagt: Calm down. Sie hat gekämpft wie eine Löwin und die Menschen gehindert, schon jetzt in das Boot zu steigen.“
Durchsage: In die Rettungsboote: „Unser Boot war plötzlich voll! Leute waren reingedrängt. Ich war fassungslos. Ich spürte: Es wird gefährlich. Die Familie mit den Kindern wurde ins Boot geschoben. Das war selbstverständlich.“ Das Boot wird abgelassen, hängt dabei schräg.
Die Costa-Mitarbeiterin ruft laut: „Suchen Sie sich ein anderes Boot!“ „Wir hatten keine Chance, ein anderes zu finden, das Gedränge war zu groß.“
22:45 „Ich bekam Todesangst. Ich wollt aber in dieser Lage nicht telefonieren. Ich wollte meinen Kindern auch keine SMS schicken mit „Schiff sinkt“. Ich habe also meiner Schwester Katharina in England eine SMS geschickt: „Haben SOS. Sag den Kindern, ich habe sie lieb.“
„Ich dachte, wenn ich sterbe, soll der Tod nicht grausam sein. Ich will nicht ertrinken oder ersticken, nicht in einen Strudel geraten.“
„Ich habe ein Vater Unser gebetet: Dein Wille geschehe! Das hat mich beruhigt.“
„Eine Costa-Mitarbeiterin schrie Kommandos: „Alle auf die andere Seite! Tutti, tutti! Viele sind dem Ruf gefolgt. Wir fanden es ungeheuerlich, Richtung Wasser zu gehen, und blieben an der Reling. Ich sah Schuhe auf einem Haufen liegen. Ich dachte: Leute mussten die ausziehen für ein Schlauchboot! Es gibt ein Boot!“
„Drei Costa-Mitarbeiter, Asiaten, haben mit Seiten hantiert. Ich dachte, die machen ein Schlauchboot fest. Mein Partner hat aber gesehen, dass die das Schiff am Kentern hindern wollten. Mit Seilen! Das war so sinnlos.“
Das Paar hangelt sich, einander an den Händen haltend, nun doch auf die Seite am Wasser.
„Dort waren nur noch wenige Leute. Perfekt! Da muss es Boote geben. Da kommen wir mit!“ Zwei Mal versucht ein Rettungsboot vergeblich, rückwärts festzumachen, es fährt leer weg. „Wahrscheinlich war unser Schiff zu schräg. Das Anlegen gefährlich.“ Das Paar sieht also zum dritten Mal ein rettendes Boot ohne sie wegfahren.
„Jetzt war uns klar: Wir müssen springen! Jetzt sind wir am Ende! Wir sahen weiter vorn am Schiff Schwimmwesten im Wasser und wussten, dass andere Passagiere auch schwimmen. Es gab kein Zögern mehr.“
„Wir sind aufs Geländer gestiegen. Haben uns an den Händen gehalten. Auf drei sind wir gesprungen. In ein schwarzes Loch. Vier, fünf Meter tief.“
Das Wasser ist eisig.
„Schwimm, schwimm, schwimm. Ich wollte weg vom Schiff. Hatte Angst, dass es auf mich fällt. Mein Partner schwamm hinter mir. Ich habe immer wieder seinen Namen gerufen. Er hat geantwortet, war also da.“
In der Sekunde des Absprungs sieht ihr Partner einen Felsen. Da muss Land sein. Wie lange sie schwimmt, wie weit, Kaufmann weiß es hinterher nicht.
„Kurz vor dem Felsen habe ich probiert, ob ich festen Boden unter den Füßen habe. Aber da war nichts. Da wurde ich von jemand aus dem Wasser gezogen. Ich weiß nicht, wer das war. Ich habe nicht wahrgenommen, was links und rechts geschah.“
„Ich hatte Angst, das Schiff könnte explodieren. Also weg. Wir sind den Felsen hoch gestolpert, durch Gestrüpp. Auf einer Felsplatte haben wir uns gesetzt. Meine Zähne haben zwar geklappert, mir war aber warm. Obwohl ich durchnässt war, das Wasser kalt war, es Winter war. Plötzlich, auf dem Weg in die das Fischerdorf, habe ich gefroren.“
Sie werden zu einem Schulgebäude gebracht. Eine Frau macht Platz an der Heizung frei, eine andere Frau gibt ihr Unterhemd, jemand eine drei Nummern zu kleine Jeans, ein anderer einen Becher warme Milch.
„Aus der silbrigen Rettungsfolie haben wir uns Socken gebastelt. Damit sind wir in die nassen Schuhe. Das hat funktioniert. Mein Partner hat aus dem Leintuch einen Rock gebastelt. Seine Polyester-Jacke war wieder trocken. Ich habe aus der Rettungsfolie einen Poncho gemacht und meine nasse Jacke drübergezogen.“
Auch Wochen nach der Katastrophe leidet Ute Kaufmann. „Ich wollte Skifahren gehen. Aber ich kann nicht. In eine Gondel steigen. Im Gedränge. Ich kann nicht. Ich schaffe es nicht, eine Tiefkühlpizza in den Ofen zu schieben. Es ist so einfach – aber ich schaffe es nicht. Mein Rücken tut weh, meine Beine. Mein Zeitempfinden ist weg. Gefühlt bin ich noch Mitte Januar. Meine innere Uhr ist stehengeblieben.“
Unter Todesangst hat ihr Körper funktioniert, jetzt versagt er bei Tätigkeiten, die sie schon tausendfach getan hat.
* Name geändert
Die Fotos hat mir meine Mutter zur Verfügung gestellt. Sie ist im Dezember 2011 auf der Costa Concordia durch das westliche Mittelmeer gekreuzt – und hat die Insel Giglio nicht gesehen.
(Quelle: Screenshot Google Maps)
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